„Ich habe Alzheimer“

René van Neer, Wissenschaftler und Schriftsteller, erkrankt an Alzheimer. Das Besondere: er kann lange sehr genau über seinen Zustand berichten. So erfahren wir sehr persönlich, wie sich die Krankheit anfühlt, was in seinem Kopf vorgeht. Seine Tochter, Stella Braam, Schriftstellerin, hält die Erlebnisse und Beschreibungen ihres Vaters fest.

„Er starrt in die Ferne. Es folgt eine Unheil verkündende Mitteilung: „Mein System zersetzt sich. Ich kann mich nicht mehr für mich selbst verbürgen.“ Als ich weiterfrage, sagt er: „Letzte Woche und die Woche davor hat sich die Bedeutung verändert. Die Formulierungen aber sind gleich geblieben. Ich habe in meinem Kopf eine Kehrseite entdeckt. Als wäre ich nicht ganz bei Trost.““ René van Neer beschreibt seinen Zustand so plastisch, dass ich erschrecke, bei den Bildern, die ich dazu im Kopf habe. Mir wird klar, wie irritierend es ist, zu merken, dass man nicht mehr so funktioniert wie früher.
Ich bin mir sicher, mein Vater hat ähnlich empfunden, es aber nicht so direkt ausgedrückt. Er formulierte ab und an: „Ich glaube, mein Kopf funktioniert nicht mehr richtig.“ Oder „Da ist ein Gewitter“, und klopfte mit der Hand auf den Kopf. Oder, ganz versteckt: „Ich bin froh, dass meine Tochter sich um mich kümmert.“ Dass René van Neer vielschichtiger und deutlicher formuliert liegt sicher daran, dass er Wissenschaftler war. Manchmal hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass er sich selbst beobachtet wie ein Versuchstier.

„Früher machte ich meinen Geldbeutel auf und wusste sofort, wie viel Geld darin war. Jetzt kann ich das nicht mehr. Ich weiß nicht, welches Geld, welchen Wert hat. … Ich muss das leider feststellen. Ich kenne die Erfahrung von eins, zwei und drei nicht mehr.“ René van Neer kann nicht mehr rechnen. Er vermutet, dass seine Visitenkarte auch eine Bankkarte ist und wundert sich, dass sie am Automaten nicht funktioniert. Er ist traurig, dass er keine anderen Geldquellen hat.
Mein Vater hortete geradezu 50 Euroscheine, bevor er ins Heim kam. Geld holen konnte er schon länger nicht mehr. Da er auch die Karten verwechselte und PIN-Codes mit verschiedenen Telefonnummern, waren alle bis auf meine gesperrt worden. Er schickte also mich Geld holen und es mussten immer 50 Euroscheine sein. Er wusste noch, dass man damit ganz ordentlich einkaufen konnte. Als er ins Heim kam, hatte er 500 EUR in 50er Scheine im Geldbeutel und hoffte, dass es genug war, um dort leben zu können. Immerzu hatte er Angst, dass er sich das alles nicht mehr leisten konnte. René van Neer fragte seine Tochter ständig, ob das nicht alles zu teuer sei. Der Verlust, die Bedeutung von Geld zu verstehen und zu überblicken, was man sich damit kaufen konnte, wiegt sehr schwer. Man gibt damit ein sehr großes Stück Selbständigkeit auf.

„René ist leichenblass. Seit Tagesanbruch läuft er ohne Unterbrechung herum. „Ich bin schrecklich müde“, sagt der tropfenfreie Mann. … „Herr van Neer läuft ständig herum, manchmal schläft er buchstäblich im Stehen“, steht in der Pflegeakte.“ Unruhe kommt bei Demenzkranken häufig vor. René hat immer das Gefühl, dass er zu einem Termin muss, dass Menschen in einem Meeting auf ihn warten, dass er in die Bibliothek muss. Das macht ihn unruhig und lässt ihn rastlos und scheinbar ziellos herumlaufen. Aber er gibt seiner Tochter gegenüber auch kleinlaut zu, dass er nicht mehr weiß, wie man sich hinsetzt, als sie ihn auffordert, sich doch mal zu setzen. Es ist tragisch, er ist müde, will schlafen und weiß nicht, wie er sich setzen kann.
Mein Vater läuft vor allem nachts umher, sein Tag-Nacht-Rhythmus ist verschoben. Das Umherlaufen und die Unruhe haben meist mit dem Leben des Betroffenen zu tun. Bei René sind es die Termine, mein Vater hatte abends als Letzter seine Baustellen kontrolliert. Ist alles abgeschlossen? Das Werkzeug verstaut? Sind alle Lichter aus? Zuhause ist er nachts mit einer Taschenlampe durchs Haus und hat jeden Raum kontrolliert.

René und Stella ist es mit diesem Buch gelungen, eine tiefen Einblick in die Gedankenwelt eines Demenzkranken zu geben; informativ und aufwühlend zugleich.

(René van Neer, Stella Braam, Ich habe Alzheimer – Wie die Krankheit sich anfühlt, Belz Verlag, Weinheim 2017, 1. Auflage 2016, ISBN 978-3-407-85848-1)

(Der Beitrag ist zuerst erschienen im Senioren-Journal 3 / 2017 der Wetterauer Zeitung vom 20.05.2017)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert