Seitenlage

Sonniges Einzelzimmer im Pflegeheim„Ihr Vater sitzt schon seit einer halben Stunde fröhlich im Gemeinschaftsraum“, sagte die Mitarbeiterin als ich das letzte Mal im Heim war. Ich starrte sie ungläubig an, lief ins Zimmer und wirklich, da saß er. Als er mich kommen sah, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Das bildete ich mir nicht ein. Ich setzte mich neben ihn, er drehte den Kopf zu mir und hauchte einen Kuss auf meine Wange zur Begrüßung. Ich war sprachlos, das gab‘s schon lange nicht mehr.

Was hatte ich mich im Herbst und Winter gegrämt, weil mein Vater sich mehr und mehr zurückgezogen hat. Nicht mehr oder nur ganz wenig mit mir reden wollte. Er drehte sich rum, wollte nichts sehen und nichts hören. So dachte ich zumindest. Weil ich wieder mal die Situationen aus meinem Blickwinkel beurteilt habe.

Was war geschehen: Mein Vater hat ein Einzelzimmer, in dem er sich oft aufhält, aber meist im Bett liegt. Er wollte nie gerne länger im Gemeinschaftsraum sitzen, das war ihm alles zu viel. Das Bett in seinem Zimmer stand links in einer Nische an der Wand. Wenn ich kam, lag er meist im Bett, das Gesicht zur Wand gedreht. Kaum nahm er Notiz, wenn jemand ins Zimmer kam. Auf die Begrüßung reagierte er nicht, wenn ich mich rüberbeugte, drehte er selten den Kopf zu mir. Für mich die Zeichen, dass er nichts mit uns zu tun haben wollte. Nicht reden und nicht hinschauen, so habe ich es gedeutet.

Vor drei Wochen kam ich ins Heim und das Bett stand auf der anderen Zimmerseite. Ich stutzte und fragte die Pflegerin humorvoll: „Warum haben Sie das Bett umgestellt? Ist das wegen einer Wasserader?“ Wir grinsten uns an und sie meinte: „Ich glaube, wir mussten mal hinterm Bett putzen, das war überfällig! Aber Spaß beiseite, irgendjemand kam auf die Idee und wir hatten das Gefühl, dass es Ihrem Vater besser gefällt.“
Ich könnte diesen „Irgendjemand“ küssen. Warum? Mein Vater lag zwar immer noch im Bett, aber nun auf der dem Zimmer zugewandte Seite, er hatte die Augen offen und ich sah, dass er alles im Raum wahrnahm. Er reagierte und beteiligte sich nach seinen Möglichkeiten aktiv am Gespräch. Er lag zwar weiterhin im Bett, aber war wach und dabei!
Seither ist er besser ansprechbar und geht auch mehr ins Gemeinschaftszimmer und bleibt auch ein wenig dort sitzen.

Mir ist inzwischen klar, dass es am Umstellen des Bettes liegt. Er liegt auf seiner rechten Seite, aber vorher war die Seite zur Wand hin und nun schaute er ins Zimmer. Er hatte sich eigentlich gar nicht so sehr zurückgezogen, wie ich vermutete. Die rechte Seite war einfach seine Lieblingsseite und nun blickt er dabei ins Zimmer und sieht was vor sich geht. Seither ist er offener und ansprechbarer.

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die enorm wichtig sind! Die wir nicht im Blick haben, weil wir schnell mit unserem Erfahrungshintergrund interpretieren. Wir müssen lernen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, nichts als Selbstverständlich hinzunehmen und versuchen, die Perspektive zu wechseln. Dann sieht die Welt schon anders aus! Und nun gehe ich frohen Mutes ins Heim.

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