Demenz für Anfänger – Das Buch

Oma Paula war die Konstante im Leben ihrer Enkelin Zora Debrunner; ihr Haus war Zoras zweites Zuhause. Sie verbrachte die Ferien dort, auch eine lange Zeit der Rekonvaleszenz. Oma Paula war ihre Vertraute, sie besprachen am Küchentisch alles, den ersten Liebeskummer, Schulprobleme und alles was ihnen im Leben wichtig war. Doch irgendwann nach dem plötzlichen Tod von Zoras Mutter, wurde Oma Paula vergesslich und langsam dement. Es kam der Zeitpunkt, da sie nicht mehr allein in ihrem Haus leben konnte und in ein nahegelegenes Heim ging. Anfang Januar, als ich die letzten Seiten im Buch las, ist Oma Paula gestorben.

„Omi Paulas Erinnerung verschwand, und mit ihr auch ich, Zora, aus ihrem Leben. Doch irgendwie machte das etwas anderem Platz. Wir waren mit einem Mal Paula und ich, ihr Gegenüber.“ Das Vergessen zieht sich in unterschiedlichen Episoden durch alle Erzählungen im Buch. Mit dem Vergessen von Zora schwindet die gemeinsame Vergangenheit, die gemeinsamen Erlebnisse, Reisen und Gespräche gehen verloren, alles was das Leben mit Paula ausgemacht hat. Es ist schwer, zu erkennen, dass man nur noch selbst diese Erinnerungen hat. „Es scheint, als wäre ich die Verwalterin unserer familiären Anekdoten geworden.“ Auch ich bin über die Jahre zu einer Verwalterin der familiären Anekdoten geworden. Mein Vater hat gerne Geschichten aus seinen beruflichen Auslandsaufenthalten erzählt und im Laufe der Zeit veränderten sich diese. Der Ayers Rock lag plötzlich nahe Bagdad und er fuhr mit seinem alten Auto und der Salami in den Kongo. Nur ich kenne noch die ursprünglichen Geschichten und werde sie auch aufschreiben müssen, damit sie nicht verloren gehen.

Irgendwann war es soweit: Es musste ein Heim für Oma Paula gefunden werden, da sie einen weiteren Winter in ihrem Haus ohne Zentralheizung nicht mehr durchstehen würde. „Immer wieder mal habe ich das Thema vorsichtig angeschnitten und bei Paula auf Granit gebissen …“ Als sich ihr Zustand verschlechterte, hatte Paula ein Einsehen und besuchte mit Zora zwei Einrichtungen. Das zweite Heim fand schließlich ihre Zustimmung. Ich kann gut nachvollziehen, wie schwierig das für Zora war. Die Last der Verantwortung wiegt schwer. Ich hatte damals ein schlechtes Gewissen, das bis heute noch nicht ganz weg ist, obwohl es genau die richtige Entscheidung war. Als sich Paula für ein Heim entschieden hatte, fiel Zora ein Riesenstein vom Herzen. Und dann ging es ganz schnell. „Wirklich einfach wird das nicht, denn Paula hat sich in den Kopf gesetzt, (vorher) ihr Haus aufzuräumen.“ Und das Räumen geht im Heim weiter.

Paula „… marschiert nach dem Frühstück zurück in ihr Zimmer und räumt auf. Nicht, dass sie das müsste. Ihr Zimmer ist immer sauber. Aber sie macht es gerne.“ Räumen, Aufräumen, Ausräumen und Wegräumen ist ein Roter Faden im Buch. Nicht nur, dass Oma Paula ihr Zimmer im Heim aufräumt, sie fährt mit Zora immer wieder in ihr Haus und räumt dort Sachen aus und auf. Später muss Zora entscheiden, was mit den Dingen geschieht. Sie wird selbst in das Haus ziehen und wieder räumen müssen. Mein Vater hat zu Hause jede Nacht seinen Werkzeugkeller aufgeräumt und tagsüber den Müll sortieren, war eine seiner wichtigen Aufgaben, die er mit absoluter Sorgfalt erledigte. Pappkartons wurden so zerkleinert, dass sie ordentlich in die Papiertonne passten und wehe, wir haben das nicht richtig gemacht. Noch im Heim war er viele Nächte unterwegs und hat nach Pappkarton gesucht, um diese ordnungsgemäß zu zerkleinern und wegzuräumen.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass Demente damit stellvertretend das Gedächtnis und das Leben aufräumen und nicht immer einen guten Platz für alles finden. Manches Lebenskapitel bleibt leider auf der Strecke.

(Zora Debrunner, Demenz für Anfänger, Tagebuch eines Enkelkindes, List Taschenbuch, Ullstein Buchverlage Berlin, 1. Auflage 2015, ISBN 978-3-548-61278-2)

(Der Beitrag ist zuerst erschienen im Senioren-Journal 1 / 2017 der Wetterauer Zeitung vom 28.01.2017)

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