Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand

Als sie Anfang siebzig war, findet die Mutter von Jörn Klare ihre Küche nicht mehr. Die Ärzte diagnostizieren Demenz. Für den Sohn wirft das große Fragen nach dem Wert und der Würde des Lebens mit Demenz auf. Kann ein Mensch seine Würde verlieren? Kann man sich selbst verlieren? Er spricht darüber mit Fachmenschen, wie Altenpfleger, Theologen, Soziologen und Psychologen.

„Demenz macht Angst. Angst ist der größte Risikofaktor für gute Hirnleistungen. Schön, dass es auch gute Nachrichten gibt: Neun von zehn Menschen jenseits der fünfundsechzig sind nicht dement.“ Jörn Klare sucht die positiven Sichtweisen in seiner Auseinandersetzung und Verwirrung mit der Demenz seiner Mutter. Die Fachmenschen geben sehr unterschiedliche Antworten auf seine Frage: „Kann ein Mensch mit seinen Erinnerungen auch seine Würde oder gar ‚sich selbst‘ verlieren?“ Für den australischen Philosophen Peter Singer sind sie „ehemalige Personen“, woraus er ableitet, dass Demenzkranke nicht denselben Anspruch auf Leben haben wie eine (geistig gesunde) Person.
Jörn Klare will das nicht glauben und ich kann auch nicht nachvollziehen, wie man zu solch einer Haltung kommen kann. Die Demenz stellt zwar vieles in Frage, was uns im Leben wichtig ist, aber verliert ein Mensch mit Demenz seine Würde, weil er bestimmte Erinnerungen vergessen hat, weil er einige Dingen nicht mehr in die richtige Beziehung setzen kann? Nein. Ein Demenzpatient lebt und empfindet anders, er lebt im Hier und Jetzt, was war ist sekundär und was kommt ist völlig egal und zufällig. Demenzpatienten lehren uns „den Augenblick zu leben“ und zu genießen.

„Wobei da für mich die Frage mitschwingt, ob bei einer Existenz, der von außen jeder Lebenswert abgesprochen wir, irgendwann auch das Lebensrecht infrage gestellt werden könnte.“ Klare sorgt sich, dass die Argumentation von Singer und anderen zu Ende gedacht, uns genau an diesen Punkt bringt. Die Sorge ist berechtigt. Auch ich bekam immer wieder mal die Frage gestellt, ob es nicht besser wäre, dem Leben ein Ende zu setzen, wenn Demenz diagnostiziert wird. Aber wer sollte darüber urteilen können, was ein Leben wert ist oder lebenswert macht?
Gut, dass es andere Sichtwiesen gibt. Der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs antwortet auf Klares Frage: „Was wir vergessen haben, ist zu dem geworden, was wir sind.“ Tröstlich, dass unsere Erinnerungen nicht umsonst gewesen sind, wenn wir sie vergessen haben. Ohne sie, wären wir nicht, was wir sind.
Trotz der Schwere der Demenz bei meinem Vater, kam immer wieder in unterschiedlichen Situationen seine Persönlichkeit durch. Oftmals sprach „der Bauleiter Schäfer“ im Befehlston, wenn ihm etwas nicht passte. Mich ließ dies jedes Mal Schmunzeln, so war er halt! Das war mein Vater!

Klare kommt zum gleichen Fazit wie ich, man kann seine Erinnerungen verlieren, aber man kann sich nicht selbst verlieren. Ganz tief im Geist spürt man, wer man ist. Und was wären wir für eine Gesellschaft, die anderen Menschen aufgrund eines angeblichen Mangels die Menschwürde absprechen? „Das Bild meiner Mutter, so kommt es mir vor, wird wieder rund, ist nicht länger auf seine Mängel reduziert. … Das ist es was bleibt: die Momente. Nicht mehr und nicht weniger. Alles ist jetzt.“

Jörn Klares Buch ist schwere Kost. Er wirft genau die Fragen auf, denen wir uns als Gesellschaft stellen müssen. Wie gehen wir mit Demenz um? Wie wollen wir in Zukunft Demenzpatienten versorgen, damit sie ein würdiges Leben bis zum Ende führen können?

(Jörn Klare, Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand – vom Wert des Lebens mit Demenz, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 2. Auflage 2012, ISBN 978-3-518-46401-4)

(Der Beitrag ist zuerst erschienen im Senioren-Journal 4 / 2017 der Wetterauer Zeitung vom 01.07.2017)

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