Rapsfelder

Landschaft im Frühjahr - Rapsblüte  -  1761„Schau mal da links ist ein riesiges Rapsfeld!“ Ich zeigte mit der ganzen Hand auf die linke Straßenseite. Mein Vater schaute gar nicht rüber, sondern starrte vor sich hin. Es war im Mai 2014. Ich hatte ihn zu einem Ausflug in seine alte Heimat mitgenommen. Vielleicht hatte ich eine zu romantische Vorstellung, dass er vieles wieder erkennen würde, wenn wir durch die Landschaft des Vogelsberges fuhren. Zumindest wurde die Romantik schon nach 10km gestoppt, als er sagte: „Ich muss mal kacken!“

Das saß! „Ohje“, ging es mir durch den Kopf, „das kann ja heiter werden.“ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und gleichzeitig schossen mir Gedanken durch den Kopf, wie: Am Straßenrand hinsetzen geht ja wohl nicht – Wo ist die nächste Kneipe mit Toilette und hat die schon morgens auf – Soll er, er hat doch ne Windel an. Aber brav sagte ich: „Wenn ich eine Toilette finde halte ich sofort an.“ Er nickte freundlich, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Also die Romantik war flöten, er starrte vor sich hin und ich versuchte ihn ständig auf die ihm bekannte Landschaft aufmerksam zu machen – ohne sichtbaren Erfolg.

Die ganzen alten Geschichte, die er mir früher erzählt hatte, als wir zu Oma und Opa in den Vogelsberg fuhren holte ich wieder aus meinem Gedächtnis und erzählte sie ihm nun.

  • „Schau mal da ist die Molkerei, da sind wir früher mit Onkel Ernst und dem Traktor hingefahren.“
  • „Da hinten hat Opa immer die Hinkelchen geholt.“
  • „Und hier den Berg hoch mit dem Fahrrad musstest du immer schieben, wenn du zu deiner Liebsten gefahren bist!“
  • „Und hinterher warst du froh, dass es wieder bergab ging!“
  • „Das hier war eine gefährliche Kurve, da sind wir im Winter mal mit dem Auto in den Graben gerutscht.“
  • Und, und, und …

Ich war rückwirkend froh, dass er mich früher mit den Geschichten genervt hat. Jedes Mal, wenn wir zu Oma und Opa fuhren, erzählte er an den gleichen Stellen die gleiche Geschichte. Für mich: die Meldung zum Mitsingen! Was war ich froh, dass ich sie nun „singen“ konnte. Trotzdem – keine Reaktion von ihm. Immer der starre Blick gerade aus. Wie Schade.

Als ich zum gefühlt 30sten Mal zwischendurch sagte: „Schau mal, was für ein schönes großes, gelbes Rapsfeld. Ich liebe dieses satte Gelb“, schaute er auf die andere Seite der Straße. Die war schon tief gepflügt und die saftige braune Erde gab einen intensiven Kontrast zum Rapsgelb auf der anderen Seite. Ich nahm im Augenwinkel wahr, dass er die braune Seite angestrengt musterte. Und dann – tatsächlich – er versuchte etwas zu sagen. Langsam, stotternd, nach Worten ringend und suchend kam heraus: „Die Seite ist – ist – ist … Da ist … Die ist ..  Und hier ist kein Raps!“ Spitzbübisch schaute er mich über den Brillenrand an. Er hatte es geschafft, auch wenn ihm das Wort „umgepflügt“ oder ein ähnliches nicht einfiel, ich hatte verstanden und er war glücklich, dass er sich ausdrücken konnte und ich verstanden hatte.

Es ist faszinierend, wie verlorene Worte umschrieben werden können. Und ich habe an dem Tag gelernt: auch wenn er kaum Reaktion zeigt, es arbeitet mächtig in ihm und ich darf nicht müde werden, ihn mit Gesprächen zu fordern.

Ein Gedanke zu „Rapsfelder

  1. Was ein toller Blog! Danke, dass Du mich auf Twitter darauf aufmerksam gemacht hast. Hier werde ich in den nächsten Tagen intensiver stöbern.
    Und die Geschichte im Post ist wie so oft auch in meinem Leben: Eine Gradwanderung in Vielem und doch immer mit einem weinenden und lachenden Auge…

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