Erkennen – was ist das?

Businessman holding a paper with question marks in front of his„Herr Schäfer, schauen Sie mal, Sie haben doch Besuch“, sagt die Mitarbeiterin des Heims zu meinem Vater, als er den Gemeinschaftsraum betrat, mit mir im Schlepptau. Wir waren zum 3. Mal innerhalb von fünf Minuten dort. Er war wieder sehr unternehmungslustig. Was bedeutet: er liegt im Bett, steht auf, zieht sich die Hose und die Schuhe an, läuft in den Gemeinschaftsraum, schaut sich um und läuft wieder zurück in sein Zimmer, zieht die Schuhe und die Hose aus, legt sich ins Bett. Kaum eine Minute später, die gleiche Zeremonie wieder und ich jedes Mal hinterher. Ich kenne das und das Laufen ist mir lieber, als wenn er völlig unansprechbar im Bett liegt.

Doch heute wurde es interessant. Nach der Bemerkung der Mitarbeitern: „Herr Schäfer, schauen Sie mal, Sie haben doch Besuch“; sagte er: „Ja – und?“ Sie fragte: „Wer ist denn Ihre Begleitung!“ Er schaute mich an, mit Fragezeichen im Gesicht, dann setzte er nach: „Das ist meine Cousine!“ – „Das ist doch nicht Ihre Cousine.“ – „Doch, doch!“ Er wurde ungeduldig.  Sie sagte: „Das ist Ihre Tochter!“ Mein Vater schaute mich verzweifelt an, als wolle er fragen: „Wovon spricht die Frau?“ Sie erneut: „Wie heißt denn Ihre Tochter?“ Mein Vater schaute unter sich, bevor er mich ansah und zu ihr sagte: „Das weiß ich nicht!“

Rumms! Das saß. Jetzt hatte ich die Gewissheit, dass er mich nicht mehr erkannte, nicht mehr weiß, dass ich seine Tochter bin und Malu heiße. Dachte ich doch vorher immer, er lässt mich in sein Zimmer also erkennt er mich, auch wenn er mich nicht mehr direkt mit Namen anredete.

Den ganzen Abend nach dem Besuch, grübelte ich über die Bedeutung des „Erkennens“. Es bedeutete für mich immer: jemanden so wahrzunehmen, dass ich weiß, wer er ist und vor allem wie er heißt. Diese Definition habe ich auch aus Lexika in Erinnerung und hielt sie bisher für allgemeingültig. (Ja, ich weiß, es gibt weitere Definitionen des Wortes.) Daran will ich auch nicht zweifeln. Denn es bedeutet ja auch, den Zusammenhang zu erfassen, in dem dieser Mensch zu mir steht. Ich weiß wie er aussieht, wenn er vor mir steht, ob Tochter, Onkel, Cousine oder Nachbar, ich kenne den Namen und weiß wie meine Beziehung zu diesem Menschen ist, ob er freundlich, schwierig oder was auch immer zu mir ist.

Aber geht „erkennen“ auch ohne diese Zusammenhänge? Ist es nicht auch „Erkennen“, wenn ich zwar den Verwandtheitsgrad oder den Beziehungsgrad nicht mehr weiß, den Namen vergessen habe, aber dennoch ganz tief im Inneren verankert habe „das ist jemand, die kommt öfter, die ist nett und tut mir gut“? Ist „Erkennen“ auch das „irgendwie spüren“, dass dieser Mensch zu mir gehört? Wenn dem so ist, kann es mir egal sein, dass mein Vater mit der Bedeutung des Wortes „Tochter“ nichts mehr anfangen kann. Aber ist es mir egal, dass er meinen Namen nicht mehr kennt? Nicht wirklich. Ich definiere mich über meinen Namen, ich habe unterschiedliche Geschichten zu meinem Namen erlebt. Jemanden beim Namen zu nennen ist wichtig für das „einander Erkennen“.

Und doch habe ich das Gefühl, dass er mich erkennt, wenn ich zu ihm komme – und das reicht mir für den Moment!

7 Gedanken zu „Erkennen – was ist das?

  1. Nachdem ich den Text gestern spät abends noch las, heute ein paar Gedanken dazu.
    Ich meine einen Unterschied zw. Kennen und Erkennen zu bemerken. Dein Papa kennt Dich und Du bist ihm vertraut auch wenn er Dich nicht als Malu/Tochter erkennt.
    Kennen ist tief in einem drin, erkennen eine intellektuelle Tat.

    in der Genesis in den Bücher Mose verbietet Jahwe den Menschen vom Baum der Erkenntnis zu essen, er möchte die Menschen im Zustand des Kennens aber nicht in der Unterscheidung halten. Hier wird erkennen zur Erbsünde.

    Interessant wäre der Aspekt, ob er sich noch selber erkennt, sprich ob er weiss wer er ist.

    1. Stimmt, es ist ein Unterschied zwischen Kennen und Erkennen. Das wird hier wohl deutlich.
      Er erkennt sich zumindest nicht mehr auf Fotos. Allerdings habe ich ihm noch kein aktuelles von ihm gezeigt.
      Ich würde gerne mal herausfinden, ob er sich noch im Spiegel erkennt.

      1. Das Anziehen und in den Gemeinschaftsraum zu laufen und wieder zurück ins Bett und dann wieder von vorne, könnte der Versuch sein, sich mit Ritualen, mit Vertrauten Abläufen, zu beruhigen. Erinnerungen wecken hat bei meiner Oma nur geklappt, wenn sie Z.B. Eine alte Zitter vor sich auf den Tisch gelegt bekam. Und ,erkannt, hat sie sich oder uns häufig nicht mehr, aber Fremde, die alten Freunden aus ihrer Jugend als Mädchen ähnlich sahen dann mit Namen angesprochen. Dann war sie froh sich an diese wohl glückliche Zeit bei ihr auf dem Dorf zu erinnern.

      2. Er spürt sicher, dass du ihm vertraut bist, dass er sich bei dir wohlfühlen kann. Auch das ist ein erkennen. Eine weitere Frage ist noch: Warum ist uns das so wichtig? Sicher, weil das Erkennen eben zu der Vertrautheit gehört, das ist die besusste Vertrautheit. Für Deinen Vater ist das alles ins „Unbewusste“ abgerutscht. Bei jedem Besuch musst du ihn neu nehmen, wie er ist. Das ist schwer. Für ihn scheint es leichter, weil er im moment und offenbar im Nicht-Bewusstsein lebt, also in einem Sein, wie wir es wegen unseres Denkens und unseres Verstandes nicht kennen. Ich denke, du erreichst ihn ganz tief über die Gefühlsebene, irgendwie. auch wenn die nicht immer so offensichtlich ist. Oder wie von ihm abgeblockt erscheint.

        1. Ich stelle fest, „Erkennen“ hat sehr viel mehr Facetten, als mir bisher bewusst war.

          @Stefanie, sicher würde er auch über Gegenstände an alte Zeiten erinnert, leider ist das im Heim so nicht mehr gegeben. Aber eine Zeit lang hat er alte Fotos von seinen Auslandsreisen sehr gemocht und sich erinnert. Er hat zwar die Ereignisse neu kombiniert, aber alles war „richtig“.

          @Frauke Ich denke „Erkennen“ im üblichen Sinne ist für uns alle so wichtig, weil es uns Struktur in den unterschiedlichen Beziehungsgeflechten gibt und wir uns auch ein Stück weit über diese Beziehungen in unserer Persönlichkeit definieren.

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