Der Rasierapparat

Modern Electric Razor Shaver„Mensch Papa, hast du ausgebeulte Taschen“, er schaute mich unverwandt an, drehte sich um und ging weiter den Gang entlang. Es war in der Klinik im Sommer 2013 bevor er ins Heim kam. Sein Zustand hatte sich die Wochen zuvor so stark verschlechtert, dass der Aufenthalt notwendig wurde.

„Der Alte hat einen Spleen“, hätte mein Vater wohl über sich selbst gesagt. Jeden Tag hatte er selbst aber einen anderen. Heute waren seine Hosentaschen so ausgebeult, dass ich Angst bekam, sie würden gleich platzen. Was darin war, konnte ich nicht sehen. Herren-Hosentaschen sind manchmal genauso unergründlich wie Damen-Handtaschen.

Er lief die ganze Zeit den Flur auf und ab und ich nebenher. „Sag, doch mal, was in deinen Taschen ist?“ Keine Reaktion. „Papa! Was schleppst du da mit dir rum?“ – „Das geht dich nichts an!“ Uihhh, der Bauleiter-Schäfer-Ton. Ich flötete prinzessinnengleich „Papi, zeig doch mal, was du da versteckt hast?“ Und schaute ihn dabei wie ein kleines Mädchen an. Ha! Das half. Ein Päckchen Papiertaschentücher nach dem anderen quoll aus den Hosentaschen. Aus der rechten vorderen vier Päckchen aus beiden Gesäßtaschen jeweils drei Päckchen. Er zeigte mir fröhlich seinen Schatz und grinste schelmisch: „Es wird keinen Notstand mehr geben!“ Ja, da hatte er recht, das würde wohl für mehrere Tage reichen.

„Aber, wo mein Rasierapparat ist weiß ich nicht. Der ist bestimmt geklaut worden.“ – „Ach, Papa, das glaube ich nicht, komm wir fragen den Doktor.“ Im Mitarbeiterzimmer zeigte uns die Stationsschwester tatsächlich drei gefundene Rasierapparate und flüsterte mir ins Ohr: „Wissen Sie, unsere Patienten legen die Sachen auch schon mal an komische Orte oder in ein anderes Zimmer.“ Ja, ich wusste das, waren seine Unterhosen doch letzte Woche auch auf Wanderschaft gegangen. „Also Papa, da müssen wir jetzt mal suchen, der kann ja nicht verschwunden sein“, sagte ich. Wie zwei Detektive schlichen wir den Gang entlang, immer hin und her.

Plötzlich griff mein Vater in die linke vordere Hosentasche, zückte gedankenverloren seinen Rasierapparat und begann sich im Laufen zu rasieren. Ich holte Luft und wollte gerade etwas sagen, da grinste er mich an: „Gleich ist Abendbrot, da muss ich doch gut aussehen.“ Er drehte sich um, winkte mir mit der anderen Hand zu und verschwand im Esszimmer der Station.

(Dazu passender Artikel Die Entscheidung.

Ein Gedanke zu „Der Rasierapparat

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