Mein Vater und ich sitzen gut gelaunt und kaffeetrinkend im Gemeinschaftsraum. Versonnen schaut er sich um. Er ist damals gerade erst zwei Monate im Heim und noch neugierig, was um ihn herum passiert. Da schwirrt eine Dame herein, die ich noch nie gesehen habe. Mein Vater brummelt etwas verächtlich: „Die ist neu hier!“ „Ja und?“ „ Na, die ist komisch. Merkste gleich!“ Gespannt schau ich, was die Dame macht. Sie setzt sich hin, inspiziert ihren Kaffeebecher und stellt ihn wieder hin. „Gleich“, sagt mein Vater. Ich äuge rüber.
Plötzlich fängt sie in ohrenbetäubenden, schrillen Ton an zu zählen. 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41 – 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41. Ach du Schreck, ich halte mir die Ohren zu. Mein Vater triumphierend: „Siehste, was hab ich gesagt?“ Gleichzeit beginnt eine Dame gegenüber, die schon länger im Heim ist und selbst stimmlich ein sehr lautes Organ hat, dagegen anzuschreien: „AHHHH, HÖR DOCH AUF“ So geht das gefühlt 10 Minuten. Ich bin sicher, wir bekommen alle einen Hörschaden. Es geht unablässig weiter: 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41 – 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41. „AHHHH, HÖR DOCH AUF“ 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41 – 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41. „AHHHH, HÖR DOCH AUF“.
Nicht zu fassen, denke ich, aber fasziniert schaue und höre ich mir das an. Die anderen Bewohner, sind gleich zu Beginn in ihrer Tätigkeit verharrt und starren immer noch unbewegt zwischen den beiden hin und her. Ich bin nervös. Was macht man in so einem Fall? Was soll ich tun? Mein Vater schreit: „Hörste das?“ Ich brülle ihm ins Ohr: „Das ist ja nicht zu überhören. Wollen wir lieber in dein Zimmer gehen?“ – „Ne, das guck ich mir bis zum Ende an!“ Was er damit meinte, hab ich nicht verstanden.
3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41 – 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41. „AHHHH, HÖR DOCH AUF“ 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41 – 3 – 4 – 5 – 8 – 8 – nein -9 – 10 – 11 – 27 – nein – 36 – 37 – 41. „AHHHH, HÖR DOCH AUF“. – Plötzlich kommt die Ergotherapeutin um die Ecke. Die Bewohner gucken erwartungsvoll, was jetzt passiert. Mein Vater sagt nur „Pass auf!“ Die Ergotherapeutin legt der zählenden Dame sanft die Hand auf die Schulter, schaut ihr tief in die Augen und sagt: „Sie haben prima gezählt.“ Sofort ist sie still und lächelt.
Was für eine Ruhe plötzlich im Gemeinschaftsraum!!!! Die Bewohner sinken entspannt in ihre Stühle und Sessel zurück und widmen sich wieder ihrem Kaffee und Kuchen.
Mein Vater springt auf, zerrt mich am Arm hoch und brüllt: „Die spinnen doch! Die sind doch alle bekloppt hier“, stopft seine Kuchenreste in die Kaffeetasse und gibt diese der Ergotherapeutin und düst um die Ecke.
„Was für ein Paralleluniversum“, seufze ich und düse Papa hinterher.