Wie im Straßencafé

StraßencafeWir saßen im Gang der gerontopsychiatrischen Station des Friedberger Krankenhauses und schauen was passiert. Mein Vater war im Sommer 2013 dort für etwa drei Wochen. Zuvor hatte sich sein Zustand zu Hause sehr verschlechtert. Der Tag-Nacht-Rhythmus war umgekehrt, die Ärzte wollten versuchen, dies medikamentös auf die Reihe zu bekommen, was schließlich nicht funktionierte.

Wir saßen also im Gang, es war mein täglicher Besuch kurz vor dem Abendessen. Es war reger Verkehr. Der Gang mündete in einen kleinen Sitzbereich, mit bequemen Stühlen und kleinen Tischen, auf denen Zeitschriften lagen. Es war fast wie im Straßencafé in Spanien, wo wir früher im Urlaub oft saßen und „Leute beobachteten“. Drei Damen saßen uns gegenüber, die sich aufgeregt unterhielten, über das was sie in der Yellowpress lasen und bei anderen Patienten bemerkten. Es war sehr heiß in jenen Tagen und alle recht leicht bekleidet. Ein Herr zog sich immer bis auf die Hose aus und zog damit den Unmut der drei Damen auf sich. Sie fanden „ein nackischter Herr“ habe in ihrem Wohnzimmer nichts zu suchen. Woraufhin mein Vater laut sagte: „Was reden die immer von ihrem Wohnzimmer? Die wohnen doch nicht hier. Wir sind doch alle nur zu Besuch.“

Eine Pflegerin kam um die Ecke, sie hatte die letzten Wortfetzen noch mitbekommen und mischte sich ein: „Auch Besuch muss sich ordentlich kleiden. Bitte Herr Meier ziehen Sie wieder ihr Hemd an!“ Herr Meier regierte nicht. Daraufhin ging ein großes Klagen los. Die drei Damen hatten an allem und jedem was auszusetzen. Der eine war „nackischt“, der andere rülpste, die andere bekam Medikamente zu viel, die Damen von „201“ waren unfreundlich und überhaupt nahm man ja zu wenig Rücksicht auf die drei Damen. „Ihr habt noch gar nicht meinen Blutzucker gemessen. Ich hab noch keinen Blutdruck. Und meine Medikamente sind heute zu wenig. Was sagt man dazu?“

Mein Vater schaute stumm von einer zur anderen, schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts. Nun kam Frau Läufer, so nannten wir sie, in ihrem Laufsitz angerannt. Sie saß aufrecht darin, so dass sie laufen konnte. Sie war so unruhig und lief den ganzen Tag, sie aß sogar im Laufen, schaute niemanden an, nur stur vor sich auf den Weg. Wenn sie mit ihrem Gefährt irgendwo anrempelte, drehte sie sich flink um und lief so schnell sie konnte in die andere Richtung und alles ging von vorn los. Papa war völlig fasziniert davon und beobachtete jeden Tag genau, was Frau Läufer machte. Gesagt hatte er dazu bisher noch nichts.

Nun aber flüsterte er mir zu: „Ich glaube, das hier ist eine Irrenanstalt, wann komm ich wieder raus? Hier werde ich verrückt?“ Ich wusste nichts zu antworten, hatte er doch aus seiner Sicht recht. Aber es war wichtig, dass er noch etwas blieb. Trotzdem waren dies genau meine Ängste, dass die Situation hier in der Klinik seinen Zustand noch verschlimmern würde – und was erst, wenn er wirklich in ein Heim gehen müsste? Bevor ich meine Gedanken zu Ende denken konnte, sprang er auf, ging zu den drei Damen, baute sich vor Ihnen auf und raunzte sie an: „Ihr Waschweiber, haltet einfach mal die Klappe.“ In diesem Moment kam er Frau Läufer in die Quere, die ihn anrempelte. Er war so perplex, dass er ihr nur hinterher starrte und nicht wusste, was er sagen sollte. Er stammelte nur: „Und du… du bist….“ Schnappte mich bei der Hand und zerrte mich in sein Zimmer.

Dort sagte er: „Ich will sofort hier raus!“ Ich konnte ihn nur ebenso verzweifelt wie er war anschauen und wusste keine Antwort.

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