Fröhlich stieg ich aus dem Aufzug, schaute ins Gemeinschaftszimmer und die Betreuerin winkte mit gut gelaunt zu: „Ihr Vater ist im Zimmer und schläft.“ Wir schauten uns schulterzuckend an und dachten beide: Wie immer.“ Die Zimmertür stand weit offen und die Sonne schien herein. Oh Schreck, das Bett war leer. So ging ich den Gang entlang, um ihn zu suchen. Die Mitarbeiterin des Heims unterstützte mich gleich: „Ich geh nach oben, schauen Sie unten nach!“
Gesagt getan, ich nahm das hintere Treppenhaus. Das nutzte er gerne, hauptsächlich wenn er versuchte unbemerkt auf den Hof zu kommen. Ich lief bis runter und sah ihn nicht. Nun gut, nach draußen konnte er nicht, da gab es Alarm, das hätte jemand bemerkt. Also lief ich weiter in den Keller. Den mochte er, da gab es immer was zum Räumen. Am liebsten sortiere er den Papiermüll nach seinen Vorstellungen.
Aber auch hier war er nicht zu sehen. Ich begegnete der Ergotherapeutin, die sagte, mein Vater sei nicht im Keller gewesen. Ich also wieder die Treppe hoch, diesmal, das große vordere Treppenhaus. Zusätzlich ging ich durch jeden Gang und schaute in jedes offene Zimmer. Der Mann mit dem Rillo stoppte mich und sagte: „Wohin des Wegs, schöne Frau?“ „Haben Sie meinen Vater gesehen?“ „Nein, nur den General, der sucht wieder seinen Panzer!“ Was halt so alles verschwindet im Heim…
Langsam wurde ich unruhig, er konnte doch nicht verschwunden sein, lag er in einem fremden Zimmer in einem fremden Bett? Hier ist alles möglich, Menschen und Dinge verschwinden und tauchen wieder auf. Nochmal ging ich alle Treppen und Stationen durch. Ich sprach auf den anderen Stationen die Mitarbeiter an. Alle verneinten: „Nein, heute hat Ihr Vater uns noch nicht besucht. Er kommt ja sonst regelmäßig.“
Auf „unserer“ Station kam mir mit Fragezeichen im Gesicht die Betreuerin entgegen, auch sie hatte ihn nicht gefunden. „Wissen Sie was, ich schau jetzt mal in allen verschlossenen Zimmer nach, vielleicht liegt er wirklich in einem anderen Bett. Er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.“ Ich schlurfte etwas betrübt in sein Zimmer – ja, und da lag er friedlich schnarchend in seinem Bett.
Und was hatte er auf der Nase? Eine fremde Brille. Ich bekam nur einen kurzen Begrüßungsblick und auf meine Frage, wo denn seine Brille sei, schaute er mich fragend an. Er nahm die Brille ab und hielt sie mir hin. Das sollte wohl heißen ‚hier ist sie doch‘. „Papa, das ist nicht deine Brille.“ Ungläubig setzte er sie wieder auf. Da kam die Mitarbeiterin rein: „Ach, Herr Schäfer, hier haben Sie sich versteckt.“ Ein Lächeln huschte über seine Augen. „Jetzt haben wir ihn gefunden, suchen aber seine Brille.“ Wir wurden im Schrank fündig, dort lag sie ordentlich in einem Fach. Wem aber war nun die Brille, die er auf der Nase hatte?
„Ich nehm sie einfach mit, es wird sie jemand suchen. Heute ist ein Suchen-und-finden-Tag. Erst verschwinden Teller, dann Bewohner, dann Brillen….“ Vor sich hinmurmelnd ging die Pflegerin mit der herren- oder damenlosen Brille in der Hand aus dem Zimmer. Wer weiß, was sie heute schon gesucht und gefunden hat. Ein „Suchen-und-finden-Tag“ eben!
(Passt zum Artikel: Dinge verschwinden (1): die Brille)