Einfach unvergesslich

„Claire, wie sollen wir das denn bloß den Kindern sagen?“ Claire ist seit kurzem wieder glücklich verheiratet und genießt das Leben mit Ihren beiden Töchtern. Als die Diagnose Alzheimer gestellt wird bricht ihre Welt zusammen. Die noch junge Frau hatte sich ihre Zukunft anders vorgestellt. Einfach unvergesslich ist der erste Roman, den ich zum Thema Demenz gelesen habe. Faszinierend ist, wie es die Autorin schafft, erzählerisch das komplexe Beziehungsgeflecht in der Familie, das sich nun radikal wandelt, locker und zugleich spannend aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu schildern. Der Ehemann, die Mutter und die Tochter von Claire schauen auf das Leben und die beängstigenden Veränderungen. Claire beschließt, einige Dinge in der Familie noch zu regeln, bevor sie sich gar nicht mehr orientieren und einmischen kann.

„Bald werde ich nicht mehr hier sein. Bald bin ich weg. Ich muss vorher alles in Ordnung bringen.“ Claire hat ihr ganzes Leben mit der Fürsorge ihrer Mutter gehadert und ist jetzt immer mehr auf sie angewiesen. Mit diesem Zwiespalt kommen beide nur schwer klar. Ruth, die Mutter, schwankt zwischen übertriebener Sorge und Laissez faire. So kann Claire immer wieder unbemerkt das Haus verlassen. Sie hat ein Ziel im Kopf, aber keine Orientierung mehr und erlebt immer wieder irritierende Situationen und wunderliche Orte an denen sie ankommt; lernt dabei neue Menschen kennen, oder Menschen, die sie schon lange kennt, auf eine völlig andere Art und Weise. Angehörige befürchten oft, dass Demente weglaufen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schrecklich das ist und welche Ängste man aussteht. Vorwürfe helfen nicht. Auch Ruth lernt dies im Laufe der Zeit. Claire hat immer ein Ziel oder eine Aufgabe, die sie erledigen will, doch die Eindrücke unterwegs lassen sie das vergessen. Rowan Coleman, die Autorin, nahm mich intensiv mit in die Geschichten hinein. Einerseits drückte ich Claire die Daumen, dass sie viele neue Erlebnisse sammeln konnte, die sie glücklich machten, andererseits hoffte ich, dass Ruth und Greg, Claires Ehemann, sie so schnell wie möglich wiederfanden.

Zwischen Claire und ihrer fast erwachsenen Tochter gibt es ein unausgesprochenes Missverständnis, das sie aufklären will, bevor ihr Verstand es nicht mehr zulässt. Sie fragt sich immer wieder: „War ich eine gute Mutter?“ Sie möchte die Frage gern positiv beantworten, will aber zuvor Caitlin schonend die Wahrheit erklären, ein schwieriges Unterfangen. Doch Claire schafft es, nach einigen Wirrungen, ihre Tochter so zu begleiten, dass es zu einem überraschenden Ende für alle kommen kann.

„Langsam drehe ich mich um und sehe ihn an. Ich sehe sein Gesicht, sein müdes, trauriges Gesicht, und seine hängenden Schultern. „Das Problem ist“, sage ich leise, „dass ich nicht mehr weiß, wie.““ Claire weiß nicht mehr wie Liebe geht. Da ist Greg, den sie trotz aller Widrigkeiten aus tiefer Liebe geheiratet hat, aber jetzt weiß sie nicht mehr, wie die Liebe zu ihm sich anfühlt. Im Gegensatz dazu fühlt sie die Liebe zu ihren Töchtern und ihrer Mutterhautnah.
Ruth sagt zu Claire: „Liebe ist die wahre Erinnerung. Liebe ist das was bleibt, wenn wir nicht mehr sind.“ Claire sagt zu sich: „Ihre Worte bewegen mich auf eine Weise, die ich nicht erwartet hätte. Irgendwie haben sie mir die Hoffnung gegeben – nicht auf Heilung, aber auf Frieden in meinem Kopf.“ So findet sie wieder über Umwege die Liebe zu Greg. Liebe ist tatsächlich das was bleibt. Liebe braucht offensichtlich kein funktionierendes Gehirn so wie wir das verstehen. Mein Vater hat mich im herkömmlichen Sinn nicht mehr erkannt, aber wenn ich in sein Gesicht gesehen habe, habe ich seine Liebe zu mir gesehen. Liebe ist einfach unvergesslich.

Genau diese Momente hält die Autorin fest, trotz aller Tragik ist es ein wundervoller Roman, der viel Lebensmut vermittelt und uns fröhlich in die Zukunft sehen lässt.

(Rowan Coleman, Einfach unvergesslich, Piper Verlag, München, Berlin 2014, 2. Auflage 2017, ISBN 978-3-492-30802-1)

(Der Beitrag ist zuerst erschienen im Senioren-Journal 5 / 2017 der Wetterauer Zeitung vom 23.09.2017)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert