Weihnachtsfeier! Diese wurden mit viel Liebe von den Mitarbeitern vorbereitet. Ich war gespannt, wie es in diesem Jahr sein würde, bei seiner ersten wartete Papa vergeblich auf Saddam, bei der zweiten im letzten Jahr bekam er Tinnitus vom vielen Singen. Was würde diesmal sein?
Er wollte in diesem Jahr so lange am Tisch sitzen bis der Weihnachtsmann kommt. Das hat er mir trotz Wortfindungsproblemen immer wieder versichert.
Eine Mitarbeiterin half mir, meinen Vater festlich anzuziehen. Stolz ging er dann mit mir an der Hand in den großen Gemeinschaftsraum. Hier waren schon etwa 50 Bewohner und Gäste versammelt. Wir bekamen einen Platz an einer Tischecke, die strategisch schlecht zum Ausgang lag. Das war gut so. Rechts neben ihm saß der General, dessen ganzes Auftreten seinem früheren Status angemessen war. Hochgewachsen, immer aufrecht trotz oder gerade mit dem Stock unterwegs, war er unermüdlichen auf der Suche nach seinem Panzer. Er grüßte uns freundlich und wir nahmen neben ihm Platz.
Papa griff gleich großzügig bei den Plätzchen zu; die sahen aber auch lecker aus. Er stopfte sich den Mund voll und trank den Kaffee gleich hinterher, damit es nicht zu trocken war. Dabei lachte er schelmisch aus den Augen und ich war glücklich, ihn so zufrieden zu sehen.
Der Herr gegenüber beäugte uns neugierig, ich kannte ihn noch nicht und stellte mich vor. Er schmatzte zwischen Stollen und Gebäck: „Ich bin der Heinrich!“ Mein Vater sagte nur: „Ach?“ Gleich wollte er aufspringen, da sagte Heinrich: „Nicht so unruhig, ist ja noch nichts passiert“ und neigte sich gleichzeitig zu mir herüber: „Wissen Sie, das ist die Unruhe, so sind alle Demenz-Patienten.“
Nun hielt die Heimleiterin ihre Rede, die gleichzeitig eine Abschiedsrede war, da sie in den Ruhestand ging. Die neue stellte sich gleich vor. Als nach einem Gedicht, Weihnachtslieder angestimmt wurden, sprang mein Vater wieder auf und rief etwas von „Tinnitus“. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. „Bleib sitzen, das tut nicht weh und der Weihnachtsmann ist noch nicht da.“ Der Weihnachtsmann war das Stichwort. Mein Vater blickte um sich und setzte sich wieder, Heinrich klärte mich erneut darüber auf, warum mein Vater aufsprang.
Dieses Szene wiederhalte sich während „Kling Glöckchen klingeling – Stille Nacht – Oh, du fröhliche – Oh, Tannenbaum“ (immer alle Strophen) mindestens fünf Mal. Zwischendurch schielte der General schräg zur Seite, sagte aber nichts. Heinrich war glücklich, dass er sein Wissen anbringen konnte und versicherte mir immer wieder, dass ich das nicht persönlich nehmen sollte. Zwei Engelchen huschten vorüber, warfen meinem Vater fröhliche Blicke zu und sagten: „Gleich kommt der Weihnachtmann und wir müssen ihm helfen.“ Papa war begeistert von den Engelchen und schaute ihnen verträumt nach.
Da kam der Weihnachtsmann. Mein Vater sprang auf: „Jetzt ist er da, da kann ich gehen!“ Der General erwiderte kurz und knapp: „Kein Durchkommen!“ Ja, er hatte Recht, der Weihnachtsmann hatte zwei Einkaufwagen voller Geschenke und stand damit im Weg. „Abwarten, jetzt gibt’s was“, klärte uns Heinrich auf. Die Engelchen kamen und brachten meinem Vater sein Geschenk. Er hatte nur Augen für die Engelchen und drückte mir das Päckchen in die Hand.
Nun sprang der General plötzlich auf: „Wo ist mein Panzer?“ und bevor er sich am Tisch vorbei zwängte, kam mein Vater ihm zuvor, schob mich zur Seite, dann zog der General an mir vorüber und ich hinterher. Der Gang zwischen den Tischen war eng, da dort viele Rollstuhlfahrer standen. Frau Müller ließ sich gekonnt nach hinten rollen und versperrte meinem Vater den Weg. Er stutzte kurz, nahm den Rollstuhl und schob Frau Müller vor sich her. Die saß verdutzt im Rollstuhl und brüllte: „Ich will nicht. Lass mich stehen!“ Es half nichts, mein Vater schob ungerührt die wild gestikulierende Frau Müller vor sich her aus dem Raum.
An der Treppe stand eine Mitarbeiterin, die das ganze amüsiert beobachtet: „Na, ob die beiden sich einigen werden?“ sagte sie zu mir. Ich zuckte die Schultern. Derweil versuchte der General nach draußen zu kommen, um nach seinem Panzer zu schauen. Mein Vater parkte Frau Müller am öffentlichen Fernsprecher im Flur, drehte sich nach mir um, nahm mich bei der Hand: „So!“
Wir gingen Hand in Hand zum Aufzug. Frohe Weihnachten!