„Sag mal, wie kommst du hier eigentlich rein?“ Diese Frage stellte mein Vater in den ersten Monaten seines Heimaufenthaltes ständig und mit einem vorwurfsvollen Unterton. Stereotyp antwortete ich: „Durch die Tür!“ Jedes Mal schaute er mich ungläubig an. „Doch glaub mir. Ich klingle und mir macht jemand auf.“ Er nahm die Antwort hin, ich sah ihm aber an, dass er damit nicht zufrieden war, ging jedoch nicht darauf ein. Mir war klar, worauf er hinauswollte.
Mein Vater hatte und hat immer noch einen verkehrten Tag-Nacht-Rhythmus. Das war mit ein Grund, dass ich ihn zu Hause nicht mehr betreuen konnte. Er spazierte des Nachts durch Haus und den Garten – er lief Patrouille mit Taschenlampe. Ich konnte nicht mehr schlafen. Meine Angst war, er würde sich irgendwann nicht mehr mit unserem Grundstück zufriedengeben und wir müssten ihn suchen lassen. Als mein Cousin, der einen Bäckerladen in unserem Dorf hat, sagte, dass er regelmäßig zwischen 1 und 2 Uhr nachts auftauchen und „randalieren“ würde, weil der Laden geschlossen sein, war klar: jetzt brauchen wir professionelle Betreuung.
Das Heim, in dem er ist, ist auf Menschen mit „Hinlauf-Tendenzen“ eingerichtet. Es gibt einen Alarm, wenn er das Haus verlässt, ohne einen Zahlencode eingegeben zu haben.
Mein Vater hat den Alarm intensiv genutzt, in manchen Nächten mussten die Angestellten zwei bis dreimal hinterher, um ihn im Hof, oder auf der Straße davor wieder einzuholen. Man glaubt gar nicht, wie schnell er nachts laufen konnte. Also, mir war klar, er wollte mit seiner Frage herausfinden, wie er das Heim verlassen könnte, ohne dass es bemerkt wurde. Deswegen blieb ich bei meiner stereotypen Antwort und versuchte, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
Irgendwann hörte er auf zu fragen, ich weiß nicht mehr so genau wann. Aber er hat heute noch einen starken Bewegungsdrang und ist im Haus unterwegs, ab und an versucht er auch noch nachts auf den Hof zu spazieren. Nach seinem Krankenhausaufenthalt im Mai dieses Jahres war ich fast froh, dass er wieder Versuche unternahm. Es war für mich ein Zeichen von Normalität und dass er sich von seinem Krankenhausaufenthalt wieder erholt hatte. Als ich den Mitarbeitern sagte, dass sie jetzt wohl nachts wieder mehr „Arbeit“ mit meinem Vater hatten, schauten sie mich an und sagten: „Das machen wir doch gerne. Er ist wieder der ‚Werner‘ fast wie vorher.“
Seit Juni ist eine neue Bewohnerin auf der Station meines Vaters. Eine nette Dame, die anfangs Schwierigkeiten hatte sich zu orientieren, und der ich immer wieder ihr Zimmer zeigte, das sie nicht mehr fand. Sie war auch eine der Damen, die mir beim Tischdecken bei der Geburtstagsfeier meines Vaters geholfen hatte. Bei der Feier saß sie neben mir, schaute mich nach dem zweiten Stück Kuchen mit großen Augen an und fragte: „Sagen Sie mal, wie kann ich hier Aussteigen? Ich finde den Ausstieg nicht.“ – Fast musste ich laut loslachen. Ich sah meinen Vater wieder mit der verklausulierten Frage: „Wie kommst du hier rein?“
Meine Antwort an die Dame war übrigens: „Es geht ganz einfach – durch die Tür!“
Ein Gedanke zu „Aussteigen – wie kommst du hier rein?“